V wie Vera

Mehlschwalben

Findelkinder

Im Juli 1998 saß auf dem Verbundsteinpflaster im Hof eine hilflose, noch fast unbefiederte und frierende junge Mehlschwalbe. Fast eine Stunde wärmte ich sie in der hohlen Hand und suchte nebenbei nach einem nestähnlichen Behältnis. Es fand sich ein geflochtenes, oben offenes Körbchen, das ich mit einem weichen Tuch und Papier auspolsterte. Oben drüber kam noch ein dickes Stück Vlies, so dass wie bei einem richtigen Schwalbennest nur eine Öffnung nach vorn blieb, und dorthinein setzte ich die junge Schwalbe.

handzahme junge Mehlschwalbe

Behalten wollte ich das Vögelchen nicht, ich traute mir das Füttern auch gar nicht zu. Deshalb rief ich bei der Tierärztlichen Hochschule an, ob ich die Mehlschwalbe dort abgeben könne. An den genauen Verlauf des Gespräches kann ich mich nicht mehr erinnern, jedenfalls brachte er nicht den gewünschten Erfolg.

Ein Anruf bei einer willkürlich aus dem Telefonbuch ausgesuchten Tierärztin verlief ähnlich. Ich solle die Mehlschwalbe wieder dorthin setzen, wo ich sie gefunden hätte, vielleicht würden die Eltern sie weiterfüttern. Das erschien mir unmöglich, denn es war kalt und regnerisch, die Schwalbe erst wenige Tage alt, und auf dem Hof streunten auch Katzen herum. Doch ich bekam wenigstens den Ratschlag, die kleine Mehlschwalbe von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang und vor allem in regelmässigen Abständen zu füttern. Ich solle es machen wie die Schwalbeneltern. Am Ende des Gespräches folgte noch die Bemerkung: Das schaffen Sie nie. Die gehen alle an Darmkoliken ein. Das hat dann schon meinen Ehrgeiz geweckt.
Noch wusste ich nicht, dass mein Findelkind am nächsten Tag ein Geschwisterchen hinzubekommen würde ...

Auf Spinnenjagd

Die größte Sorge war zunächst die Beschaffung von Futter. Am einfachsten erreichbar waren Spinnen. Also ging ich noch am gleichen Abend mit einem leeren Marmeladenglas in die Durchfahrt zu den Garagen. Das Fangen war einfach: Das Marmeladenglas unter eine Spinne halten, klopfen oder anstupsen, schon ließ sie sich fallen und landete im Glas, Deckel drauf und zurück zum Schwälbchen.

Die Fütterung der Mehlschwalbe mit der Pinzette

Mit einer langen, gebogenen Pinzette, eigentlich zur Pflege von Bonsais gedacht, packte ich beherzt eine Spinne und stopfte sie dem Schwälbchen mit leichtem Druck von der Seite in den Schnabel, denn es öffnete ihn nicht freiwillig.

Nach der letzten Fütterung am Abend beugte mein Mann sich noch einmal zu dem Körbchen herunter und sagte ein paar freundliche Worte. Es raschelte, und er erwartete, dass das Schwälbchen noch einmal das Köpfchen herausstreckte. Aber es kam das Hinterteil hervor und Kot spritzte heraus. Der traf zielsicher die Brille und floss von dort herunter auf den Schlafanzug. Die Freude über den erwarteten Gutenachtgruß wandelte sich zu Enttäuschung.

Der Sonntag begann wieder mit einer Spinnenmahlzeit, und wieder ging es nur mit sanfter Gewalt. Im Laufe des Vormittags untersuchte ich die Schwalbe auf Parasiten und fand ein wanzenähnliches Tier (Blutlausfliege?) zwischen den Federn. Ich verfütterte es gleich an die Schwalbe, selbst dankbar für jede Art von lebendigem Futter. Schon am Nachmittag sperrte die Schwalbe den Schnabel von selbst weit auf, und ich konnte sie später auch mit der bloßen Hand füttern.

Gegen Mittag saß fast an der gleichen Stelle wieder ein Schwälbchen, etwas größer und etwas älter als das zuvor gefundene. Am Nest war etwas ausgebrochen, da waren die beiden herausgefallen und mehr als 10 Meter in die Tiefe gestürzt, ohne sich zu verletzen. Dieses Schwalbenjunge wurde gleich auf Parasiten untersucht, es fanden sich zwei rötliche Saugwürmer, die ebenfalls sofort als Ersatznahrung dienen mussten.

Von da an fütterte ich die beiden Jungen von 6.00 Uhr früh bis 21.00 Uhr abends in Abständen von 15 Minuten. Zur Erinnerung stellte ich nach jeder Fütterung eine Eieruhr entsprechend ein. Die größere Schwalbe habe ich 16 Tage, die kleinere 18 Tage gefüttert. Bei 60 Fütterungen am Tag pro Vogel dürften das insgesamt mehr als 2000 Fütterungen gewesen sein.

Ein zunächst nicht einkalkuliertes Problem war die Tatsache, dass die Schwalbenjungen ihren Kot mehrmals am Tag aus dem Nest herausspritzten. Später lag vor den Körben immer eine dicke Lage Zeitungspapier, um die Möbeloberflächen zu schützen.

Als ich erkannte, dass ich mit dem Fangen von Spinnen und anderen Insekten nicht nachkam, kaufte ich am folgenden Montag eine sehr kleine Menge Rinderhack aus der Fleischerei. Am Nachmittag konnte ich auch Mehlwürmer aus einer Zoohandlung beziehen. Beide Schwalben haben Spinnen, Fliegen, Silberfische, zimmerwarme winzige Hackfleischbröcken und Mehlwürmer angenommen und zumindest dem Augenschein nach sehr gut vertragen. Die zuletzt gefundene Schwalbe machte auch noch weniger Schwierigkeiten als die erste bei der Gewöhnung an das Füttern durch Menschen. Beide nahmen das Futter von der Pinzette oder auch vom bloßen Finger und waren sehr zutraulich und überraschend kontaktfreudig.

Nur am Anfang saßen beide Schwalben in einem gemeinsamen Körbchen, doch bald stellte sich heraus, dass es für zwei zu klein war. Die größere Schwalbe setzte sich bei der Fütterung immer auf die kleinere, so dass ich zum Füttern nicht herankam, sonst aber kroch sie darunter, um es wärmer zu haben, und drückte die andere nach oben heraus.

Futterneid ist schrecklich

Deshalb bekam jede ein eigenes Körbchen. Solange die Körbchen gegenüber standen und Sichtkontakt bestand, kletterte die größere Schwalbe sogar in das andere Körbchen hinüber und wieder unter die kleinere Schwalbe. Erst als die Körbchen in gleicher Blickrichtung nebeneinander standen, gab die größere Schwalbe Ruhe. Wenn ich fütterte und nicht aufpasste, kletterte die nicht gefütterte gern aus dem Korb auf meinen Arm, und dann kam auch schon die andere und tat es ihr nach. Es endete damit, dass beide sehr gern zusammen auf meiner Schulter unter meinen Haaren saßen und sich durch die Wohnung tragen ließen.

Fernweh

Fast flügge Mehlschwalben

Doch nur zu bald interessierten sie sich für das Fenster und schauten neugierig durch die Scheiben nach draußen. Sie machten niemals Anstalten, das Zimmer zu erkunden und darin zu fliegen. Zwei Tage vor ihrem Wegfliegen wurden sie in Fensternähe sehr unruhig. Das nahm ich zum Anlaß, beide Körbchen nach draußen auf die Fensterbank zu stellen.

Das ältere Schwälbchen flog einen Tag früher fort. Mein Sohn stand gerade am Fenster hinter dem Körbchen. Er berichtete, die Schwalbe sei aus dem Körbchen auf den vorderen Rand geklettert, habe sich zu ihm umgedreht und ihn lange angeschaut, dann sei sie einfach weggeflogen. Ich nahm diesen Bericht etwas skeptisch zur Kenntnis.

Am Abend holte ich das andere Körbchen wieder herein und stellte es erst am nächsten Morgen nach dem Füttern erneut auf die Fensterbank. Die Schwalbe war unruhig, so dass ich wartend am offenen Fenster stehen blieb. Nach einiger Zeit kam sie aus dem Korb hervor, dreht sich zu mir um und sah mir, so hatte ich wirklich den Eindruck, mehrere Sekunden lang direkt in die Augen, dann flog sie weg. Diesen Blick werde ich nie vergessen.

Ob die beiden das selbständige Fangen von Nahrung beherrschten und ohne Zufütterung durch ihre natürlichen Schwalbeneltern anschließend zurecht kamen? Beide flogen jedenfalls nicht mehr zu ihren Körbchen zurück, obwohl ich diese noch einige Tage auf der Fensterbank stehen ließ.

VwV 25. Januar 2010 | 2. Februar 2010